Liebe Leserinnen und Leser,

sie ist 67, seit einigen Jahren im Ruhestand, geboren auf Rügen, aufgewachsen auf Rügen, fest verwurzelt, hat auf Rügen gearbeitet, Verantwortung getragen, Menschen begleitet, unterstützt und geprägt. Ihre Kinder und Enkelkinder leben 800 km entfernt. Immer wieder ist sie mit ihrem Mann dort. Nun ist auch ihr Mann im Ruhestand. Ihre Tochter hat sie gefragt, ob die beiden zu ihnen ziehen. Sie haben ja gesagt. Es gab einige Irritationen in ihrem Umfeld, aber auch viel Zuspruch. Das Haus ist verkauft. Noch 2 Wochen, dann kommt der Umzugswagen. Sie schlafen unruhiger. Es wird ein Umzug mit leichtem Gepäck. Die meisten Möbel und viel Hausrat werden im Haus zurückbleiben. Es geht in gute Hände – so sagen sie. Gute Erinnerungen nehmen sie mit und sind offen für Neues.

Langsam neigt sich das Jahr dem Ende zu – die Zeit der Ernte, die Zeit des goldenen Herbstes, dann die Zeit des Loslassens. Die Blätter fallen. Im Englischen „leaves“. „To leave“ heißt lassen, verlassen, aufbrechen, abreisen, losgehen.

Die meisten Bäume sind im November kahl. Es entsteht ein besonderes Licht – gerade bei uns auf Rügen. Die Bäume, nun ohne Blätter, sind geschützt vor Sturm und Frost und in Vorbereitung auf neues Wachstum. Die Blätter fallen. Loslassen bereitet den Boden für Neues. Es ist oft nicht einfach. Gerade in von Unsicherheit geprägten Zeiten möchte ich es immer wieder neu lernen: Loslassen im Vertrauen auf Gott, im Vertrauen darauf, dass Seine Wege gute Wege sind und mit Rainer Maria Rilke sprechen: Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält. Mit diesem Gedanken überraschte mich kürzlich eine an Multipler Sklerose erkrankte Frau im Rollstuhl als ich mich darüber wunderte, warum sie so eine tiefe Zufriedenheit ausstrahlt.

Ihr Jens Nielinger